Der Tag begann wie die vielen Tage davor. Nach langer schlafloser Nacht lag der alte Mann in seinem Bett und lauschte dem Gezwitscher der Vögel, die ihm den Anbruch des Tages auf ihre Art mitteilten. Es war eine der wenigen Abwechselungen, die ihm in seinem tristen Alltag noch geblieben waren. Viele Jahre war er nun schon hier und seine Schmerzen befanden sich offensichtlich im Wettlauf mit der täglichen Langeweile. Aber einen Sieger gab es nicht, beide konnten sich immer wieder durchsetzen......

Draußen auf dem Flur war das Klappern von Geschirr und die Stimmen der Schwestern zu hören. Jeden Morgen das gleiche Ritual. Die Tür flog auf, das Frühstück wurde zusammen mit einem lustlosen “Guten Morgen” serviert und schon hatte die Einsamkeit den alten Mann wieder im Griff. Doch am heutigen Tage war etwas anders als sonst.

Der alte Mann war voller Erwartung, obwohl doch “nur” das tägliche Frühstück auf sein Zimmer gebracht werden sollte. Er war unruhig und achtete noch intensiver auf jedes Geräusch als er es sonst schon tat. Er war sich sicher, irgendetwas ist heute anders. Die Tür wurde leise geöffnet, eine ihm bis dahin fremde Frauenstimme wünschte einen guten Morgen. Er antwortete verwundert und es war erkennbar, dass er nach einer Erklärung suchte, wer ihm diesmal wohl das Frühstück auf sein Zimmer gebracht habe. Seine Verwunderung veranlaßte die Frau, sich als “Schwester Sabine” vorzustellen. Sie arbeite in unterschiedlichen Heimen als Therapeutin und wollte erstmal alle Bewohner hier persönlich kennenlernen. Sie würde nach dem Frühstück wieder vorbeischauen und dem alten Mann mehr über ihre Tätigkeit als Therapeutin erzählen.

War es Sympathie oder Neugier, die den alten Mann veranlaßte, voller Erwartung auf seinem Bett zu sitzen, bis denn “Schwester Sabine” endlich wieder das Zimmer betreten würde ? Er hatte selbst keine Erklärung dafür. Nach einer guten Stunde war es endlich soweit. Die Schwester betrat das Zimmer und der alte Mann nahm sofort ein Geräusch war, das ihm nur zu gut bekannt war. Ein Atmen, Schnaufen drang in sein Ohr. ”Ich habe Willy mitgebracht, er möchte Sie auch kennenlernen. Ich hoffe nur, sie haben nichts gegen Hunde” sagte Schwester Sabine. Der alte Mann sagte keinen Ton. Er streckte instinktiv seinen rechten Arm nach schräg unten und spürte, wie eine kalte, feuchte Hundenase seinen Handrücken berührte. Er stand nun von der Bettkante auf, beugte sich nach vorn und begann mit der anderen Hand “Willy” zu streicheln. Anschließend ertastete er mit seinen beiden alten Händen ausgiebig den Hund. Dieser Kopf, diese Lefzen, diese Ohren, der elegante Hals, die starke Brust, die Muskeln.......” Du bist doch ein schöner, feiner Boxer! ” brach es aus ihm heraus. Tränen suchten sich den Weg über sein Gesicht. Seine Finger tasteten geübt den Kopf des Hundes ab. Der Oberkopf war kantig und schlank, nur leicht gewölbt, die Stirn bildete einen deutlichen Absatz zum Nasenrücken. Diese schöne dicke Oberlippe.......

So hat er ihn sich schon immer vorgestellt. Ein Traumboxer. So ein Körperbau ! Fünfzig Jahre lang hat er Boxer gezüchtet. Damit Boxer so aussehen ! Jahrzehntelang hat er für die Reinheit der Rasse gekämpft. Das war nicht immer einfach. Funktionäre, Vereine, Satzungen und Richter meinten es nicht immer gut mit ihm. Aber letztendlich hat er doch alle überzeugt. Natülich musste er auch Wege finden, Boxer, die nicht dem Standard entsprachen, von Funktionären und anderen “Sachkundigen” fernzuhalten. Aber das taten die anderen Züchter ja schließlich auch.............

Und jetzt “Willy”! Ist er vielleicht auch ein mittelbares Ergebnis seiner Zuchtbemühungen ? Der alte Mann wollte das nicht ausschließen, die räumliche Nähe zu seiner früheren Boxerzucht hätte dieses möglich machen können. Schwester Sabine riss ihn aus seinen Gedanken, indem sie bemerkte, dass sie grosse Erfolge bei älteren Menschen habe, wenn sie diesen mit “Willy” Gesellschaft leisten würde. Der alte Mann hörte gar nicht hin, er streichelte “Willy” ganz intensiv und murmelte nur, dass er denke, “Willy” müsse aparte Weißzeichnungen an den Pfoten und der Brust haben. ”Ist er gelb oder gestromt ?” fragte er plötzlich. ”Er hat Weißzeichen nicht nur an den Pfoten, er ist ganz weiß. Nur an einem Ohr hat er einen gestromten Fleck”. Schwester Sabine kicherte. “Boxer sind halt mal Individualisten - und Willy trägt seine Maske am Ohr”.

Der alte Mann vernahm die Worte, spürte die weiche Zunge von “Willy”, die seine Hand leckte.”Willy” ist weiß !

Ein stechender Schmerz suchte sich Platz in seiner Brust. Plötzlich glaubte er, sehen zu können. Er sah einen Tunnel mit funkelndem Licht am Ausgang. Er fühlte “Willy” nicht mehr, auch Schwester Sabine hörte er nicht mehr. Er sah hunderte von weißen und gescheckten Boxerwelpen. Er sah auch Blut. Die Schmerzen in seiner Brust wurden stärker. Sind es die gleichen Schmerzen, die er den Boxerwelpen zugefügt hat ? Diese hilflosen Boxerchen. Sie waren NOCH blind und sollten nie die Chance bekommen zu sehen. Er konnte nun wieder sehen. Er konnte sehen, was für ein Unrecht er sein Leben lang an den armen Kreaturen begangen hat.

ER WAR SEIN LEBEN LANG BLIND !!!!!!!!!!!

Er hat sich in wenigen Minuten in einen weißen Boxer verliebt. Einen Hund, der bei ihm keine Chance gehabt hätte, zu überleben. Er erkannte keinen Unterschied zu seinen Ausstellungssiegern ! Ausgerechnet ein weißer Boxer saß in seinen letzten Minuten an seinem Totenbett und leckte ihm die kraftlosen Hände ! Er würde dieses Erlebnis gerne im Verein schildern, gerne den Funktionären mitteilen, gerne mit anderen Züchtern darüber sprechen.......aber “Willy” leckt seine alte Hand nicht mehr. Wo ist “Willy” ? ”Wo ist Schwester Sabine” ? Wo sind die vielen, vielen Welpen, denen er den Weg zeigte, den er jetzt selber beschreiten muß ? Das Licht am Ende des Tunnels ist verloschen. Keine Hoffnung, Boxer jemals wieder sehen zu dürfen, etwas zu sagen oder ändern zu können. Die schwarze Leere breitete sich aus und riss ihn mit. ”Danke, dass Sie heute mit Willy gekommen sind. Dieser Mann hat davon geträumt, noch einmal einen Boxer zu streicheln, bevor er uns für immer verlässt. Man sagt, er hätte über fünfzig Jahre lang Boxer gezüchtet.”

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